Cameron hat Zeit gewonnen - für Europa

EUD-Generalsekretär Christian Moos sieht die Briten in der Pflicht, einen konstruktiven Beitrag zur Fortentwicklung der Europäischen Union zu leisten. Europa dürfe sich zwar von niemandem erpressen lassen, London sollte aber auch nicht zum Sündenbock Europas abgestempelt werden. Womöglich habe der britische Premierminister David Cameron mit seiner heutigen Rede, in der er ein Referendum über den Verbleib Großbritanniens in der EU ankündigte, sogar Zeit gewonnen. Moos zeigt sich in seinem Kommentar davon überzeugt, dass die Briten zur EU stehen werden.

EUD-Generalsekretär Moos: „Großbritannien wird in Europa gebraucht, und Großbritannien braucht Europa.“ (© typomaniac - Fotolia.com)

David Cameron will Rosinen picken. Das ist nicht von der Hand zu weisen. Machen wir es uns aber nicht zu einfach, wenn wir uns nun an britischen Austrittsszenarien delektieren? Eine EU ohne Großbritannien würde es sehr schwer haben, in der Welt des 21. Jahrhunderts noch als ernstzunehmender Akteur wahrgenommen zu werden. Großbritannien wird in Europa gebraucht, und Großbritannien braucht Europa. Das hat auch das Weiße Haus in Washington den britischen Freunden unlängst deutlich zu verstehen gegeben.

Darüber hinaus liegt es nicht in deutschem Interesse, die pragmatischen Briten als potentielle Verbündete oder zumindest als kühl kalkulierendes und damit zuweilen ausgleichendes Moment in Ratsdiskussionen zu verlieren. Großbritannien steht für Freihandel. Der ist eine Grundvoraussetzung für Deutschlands ökonomische Existenz. Cameron hat vor wenigen Wochen erneut eine Freihandelszone für die EU und Nordamerika in die Diskussion gebracht. Das erscheint als prüfenswerte Idee und als Brücke, über die wieder europapolitische Wege zueinander gefunden werden können. Ein engerer Zusammenschluss des Westens könnte sich in den „Stürmen des 21. Jahrhunderts“ noch als überlebenswichtig erweisen, auch für Europa. Das gilt für den Handel und die Wirtschaft. Das gilt auch für die innere und die äußere Sicherheit.

London darf nicht zum Sündenbock gemacht werden


Natürlich darf Europa sich von niemandem erpressen lassen, auch nicht von den Briten. Aber ist Erpressung wirklich die Intention des britischen Premiers? Verhält es sich nicht vielmehr so, dass Cameron mit der Ankündigung eines Referendums voraussichtlich Ende 2017 Zeit gewinnen will und auch Zeit gewonnen hat?

London war in den vergangenen Jahrzehnten keineswegs immer „Saboteur“ der europäischen Entwicklung. Für den Maastrichter Vertrag konnte mit dem Sozialprotokoll eine tragfähige Lösung gefunden werden. Nach dem Regierungswechsel in Downing Street N° 10 konnte dieses Opt-out noch in den 1990er Jahren durch den Amsterdamer Vertrag beseitigt werden. Für den beklagenswerten Fortgang, das Versäumnis, die EU und ihre Institutionen für die Aufnahme von zehn und mehr neuen Mitgliedern vorzubereiten, zeichnen viele europäische Regierungen verantwortlich. Die Hauptverantwortung lag hier eindeutig nicht bei den Briten. Es sei auch daran erinnert, wie die konstitutionelle Entwicklung Europas nach der vielversprechenden Erklärung von Laeken und all dem, was an Gutem folgen sollte, ins Stocken geriet. Der Europäische Verfassungsvertrag scheiterte 2005 nicht an Großbritannien, sondern an Frankreich und den Niederlanden. London darf nicht zum Sündenbock gemacht werden.

Die Kunst des Kompromisses, das do ut des, das kreative Auflösen von Gegensätzen in einem gemeinsamen neuen Weg, der jenseits der zuvor eingenommenen Positionen der Streitenden liegt, sind zivilisatorische Fortschritte, auf die wir Europäer nicht verzichten sollten, wenn wir wollen, dass der Kontinent weiter Freiheit, Frieden, Sicherheit und Wohlstand, letzteren zumindest als Zukunftsversprechen, kennt.

Jüngere und jüngste Ereignisse zeigen aber leider, dass in den innereuropäischen Auseinandersetzungen und Beziehungen verstärkt schrille Töne hörbar werden, Maximalpositionen an die Stelle kluger Politik treten. Die Verhandlungen zum Fiskalpakt, die ein isoliertes Großbritannien zum Ergebnis hatten, waren kein Geniestreich der europäischen Diplomatie, wer oder was hier auch immer die Hauptverantwortung trägt. Die schiefe Bahn jedenfalls, die zu den unsäglichen Austrittsdebatten führt, wurde im Dezember 2011 eingeschlagen.

Warum sollten wir nicht einen Schritt auf die Briten zu gehen?

Für ein Europa der konzentrischen Kreise

Die Lösung liegt eigentlich auf der Hand. Die Europäische Union zeichnet sich doch aufgrund ihrer schieren Größe und der höchst divergenten ökonomischen Situation ihrer Mitgliedstaaten längst durch unterschiedliche Geschwindigkeiten aus. Dieser Befund wird nun durch die zur dauerhaften Sicherung der gemeinsamen Währung unverzichtbare Vertiefung der Wirtschafts- und Währungsunion noch verstärkt. Auch die Einführung einer Finanzmarktsteuer in nur elf oder zwölf Mitgliedstaaten weist in diese Richtung.

Deutschland sollte gemeinsam mit Frankreich und Polen in der weiteren Entwicklung der Union vorangehen und all diejenigen als gleichberechtigte Partner mitnehmen, die den Weg mitzugehen bereit sind. Dabei muss die Tür für Nachrückende immer offen bleiben.

Die EU wird sich aber zwangsläufig als in sich differenziertes Gebilde darstellen. Die konzentrischen Kreise existieren bereits heute. Darin ist auch Platz für Großbritannien, selbst wenn es sich zumindest partiell aus dem gemeinsamen Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts und der europäischen Beschäftigungs- und Sozialpolitik verabschieden sollte. Konzentrische Kreise sind dabei keinesfalls eine geographische Größe. Die geometrische Figur bildet vielmehr den jeweiligen Integrationsgrad ab.

Deutschland und Frankreich haben sich gestern aus Anlass des 50jährigen Bestehens des deutsch-französischen Freundschaftsvertrags ihrer besonderen Verantwortung für Europa erinnert. Wenn Berlin und Paris sich bewusst werden, dass sie eine Aufgabe haben, die weit größer ist als die Frage, welche Staats- und Regierungschefs besonders gut miteinander auskommen, dann werden sie die Vertiefung der Wirtschafts- und Währungsunion zum Erfolg führen. Dann werden sie gemeinsam mit all den Partnern, die diesen Weg mitgehen wollen, eine Fiskalunion und nicht zuletzt eine Politische Union mit demokratisch gestärkten europäischen Institutionen ins Werk setzen.

Die Politische Union verwirklichen

Um diese Politische Union herum, die den Kern eines künftigen Europäischen Bundesstaates ausmachen wird, ist noch viel Raum für abgestufte Mitgliedschaften, wie sie schon lange in unserem gemeinsamen europäischen Haus bestehen. Dort ist allemal Platz für Großbritannien. Wenn die Politische Union erfolgreich ist, werden auch diejenigen, die nicht sogleich an ihr teilhaben wollen, nachfolgen. Das weiß auch David Cameron.

Eine Politik des Alles oder Nichts ist grobschlächtig und trägt selten Früchte. Es geht nicht um ein entweder oder sondern um ein sowohl als auch. Auch dessen ist Cameron sich durchaus bewusst. Alles andere wäre auch ausgesprochen unbritisch. Wahr ist aber auch: Cameron ist ein Getriebener. Er wird getrieben von seiner Partei und einer öffentlichen (veröffentlichten?) Meinung, die immer schon auf breiter Front europaskeptisch war, in den Krisenjahren, die Britannien hart getroffen haben, jedoch in offene Ablehnung gegenüber der Union umgeschlagen ist.

Cameron hat nun immerhin Zeit gewonnen, die momentan vorherrschende Unlust weiter Teile der britischen Gesellschaft an Europa in geordnete Bahnen gelenkt. Er hat Zeit gewonnen für eine innenpolitische Beruhigung. Er hat Zeit für Europa gewonnen, den Mahlstrom der Krise zu stoppen. Und wir sollten ihm genau zuhören. Denn Cameron stellt in seiner heute gehaltenen Europa-Rede fest, dass die Eurozone in der Integration weiter voranschreitet. Er kritisiert diese Entwicklung aber nicht ausdrücklich. Die Kritikpunkte, die er anführt, gilt es zu überprüfen. Hat er in einzelnen Fragen Recht, dann leistet er sogar einen konstruktiven Beitrag zur weiteren Entwicklung Europas. Wenn die Europäer jetzt gelassen und weitsichtig mit der schwierigen, auch krisenbedingten britischen Haltung umgehen, wird das noch weit entfernte Referendum fraglos zugunsten der Mitgliedschaft in der Europäischen Union ausgehen.

Europa muss wieder ein Zukunftsversprechen werden. Auch dieser Gedanke scheint in Camerons Rede auf. Dann wird es mit und auch dank Großbritannien eine starke Union sein, die sich auszeichnet durch Freiheit und Frieden und ein Leben ohne Furcht. Seien wir also ruhig ein bisschen froh, mit diesem stolzen, freiheitliebenden Inselvolk in Freundschaft verbunden zu sein.

von EUD-Generalsekretär Christian Moos